Wir sind viele, Hunderttausende, vielleicht Millionen. Wir haben geklatscht und Willkommensgeschenke verteilt, als im September die ersten Züge mit Geflüchteten in Erfurt, München, Frankfurt und vielen anderen Orten ankamen. Wir haben Menschen in unseren Autos mitgenommen, manchmal über Grenzen hinweg. Wir haben unsere Wohnungen geöffnet, Unterkünfte organisiert, Unmengen von Tee gekocht, Essen verteilt und warme Kleidung besorgt. Wir beraten und vermitteln beim Kontakt mit Behörden und Institutionen. Wir suchen Wege, damit Menschen gut ankommen oder gut weiterkommen, dorthin, wo sie es möchten. Wo immer Menschen ohne Versorgung gelassen werden, ob an den Zäunen und Grenzen der Balkanroute, an den Erstaufnahmeeinrichtungen oder an den Hauptbahnhöfen, haben wir, so gut wir es konnten, dieses staatliche Versagen aufgefangen und versucht, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern.
Wir sind viele und wir sind ganz unterschiedlich. Wir sind Lehrer_innen, die unentgeltlich Deutschkurse geben. Wir sind Ärzt_innen und Krankenpfleger_innen, die Menschen ohne Papiere behandeln, Anwält_innen, die versuchen die Rechte von Geflüchteten durchzusetzen. Wir sind Hartz-IV-Empfänger_innen oder Rentner_innen, die viel Zeit investieren können, um zu organisieren, zu helfen, zu handeln. Wir sind selbst Migrant_innen, sprechen die Sprachen derer, die jetzt kommen, übersetzen und hören die Geschichten vom Krieg, von der Zerstörung, der lebensgefährlichen Flucht, den Misshandlungen, der Angst.
Wir sind erst seit wenigen Monaten aktiv oder engagieren uns schon seit Jahren und Jahrzehnten in der antirassistischen Bewegung, bei den selbstorganisierten Initiativen von Geflüchteten oder ihren Supporter_innen. Wir sind selbst Geflüchtete, erst seit kurzem in Deutschland und unterstützen jetzt jene, die nach uns kommen, ihre Ziele zu erreichen und ihre Rechte wahrzunehmen.
Wir sind viele und wir haben viele Gründe, zu tun, was wir tun. Wir tun, was getan werden muss, weil wir Menschen sind und in einer menschlichen Gesellschaft leben wollen. Wir tun es, weil wir eine Festung Europa ablehnen, vor deren Mauern die Menschen ertrinken. Wir tun es, weil wir nicht in einem Land leben wollen, das Schutzsuchende aussperrt, abschreckt und möglichst schnell wieder loswerden will. Wir tun es, weil dieses Land Veränderung braucht und es gut ist, wenn die Dinge in Bewegung kommen. Wir tun es, weil Solidarität eine Beziehung zwischen Menschen ist, die sich bei aller Verschiedenheit als Gleiche begegnen: gleich an Würde und gleich an Rechten.
Oft stoßen wir in unserer Solidaritätsarbeit an Grenzen, Grenzen unserer Leistungsfähigkeit, aber auch äußere Grenzen: Hausordnungen, Verordnungen, Gesetze, Zäune. Fassungslos müssen wir mit ansehen, dass, während wir die praktische Solidarität organisieren, in Deutschland und in ganz Europa Asylgesetze verschärft werden und dass die Grenzen, die im September so wunderbar offen waren, schrittweise wieder geschlossen werden. Wir nehmen wahr, dass Angst, Abwehr und Stimmungsmache die Diskussion in Medien und Politik beherrschen. Es entsetzt uns, dass angeblich besorgte Bürger_innen gegen Unterkünfte in ihrer Nachbarschaft mobil machen und beinahe jeden Tag Häuser in Brand gesteckt werden, während Polizei und Justiz die Geflüchteten entweder nicht schützen können oder nicht schützen wollen.
Wir sind viele, Hunderttausende, vielleicht Millionen. Aber wir sind zu leise, zu sehr damit beschäftigt, das unmittelbar Notwendige zu tun. Warum sind wir kaum in der Lage, gemeinsam unsere Stimme zu erheben? Wir sind lokal oft gut vernetzt und organisiert, aber auf der bundesweiten Ebene fast unsichtbar. Das wollen und das müssen wir ändern.